Weg ist nicht weg – nur woanders

Pflegeeltern sind auch Streitschlichter, wenn sie mehr als ein Pflegekind haben. Aber es gibt Situationen, da müssen sie klar Stellung beziehen. Da müssen sie für ein Kind eintreten, um ihm Gerechtigkeit zu verschaffen. Dies ist eine dieser Situationen.

Susann ist ganz aufgeregt, als sie zu Ruth kommt.

„Mama, Mama, mein Playmobil ist weg. Ich habe sie so gern! Sie sind einfach weg!“

Erst zu Weihnachten hat sie das Playmobil bekommen, einen Kaufmannsladen mit Eisverkäuferin. Es ist eines der wenigen Geschenke, das Susann Wert schätzen kann. Wir könnten uns vorstellen, dass sie sie mit zur Schule genommen hat und sie dort verschwunden sind – aber alles??

Wir haben eine Befürchtung. Wir rufen Jeannett. Bis sie kommt, dauert es lange.

„Hast du Susanns Playmobilfiguren gesehen?“, fragt Ruth vorsichtig.

„Nööö“, antwortet sie langgezogen, aber es klingt nicht richtig überzeugend.

„Wir gehen jetzt gemeinsam in dein Zimmer  und sehen nach“, insistiert Ruth. Jeannetts Lippen werden schmal, die Augen klein. Sie gibt kein Wort von sich.

Oben angekommen, finden wir das gesamte Playmobil in einer Schublade. Aber Susann kann sich nicht freuen. Sie scheint tief enttäuscht, dass ihre Schwester ihr einfach ihre Spielsachen wegnimmt.

Wieder unten, finden wir Jeannett immer noch am Tisch, die Fäuste in ihr Gesicht gepresst.

„Jeannett, kannst du uns das bitte erklären?“, fragt Ruth.

Keine Antwort.

Susann bricht das Schweigen. „Jeannett, warum nimmst du mir meine schönsten Spielsachen weg?“

Keine Antwort. Woher soll sie das auch wissen.

Ich blicke Jeannett an, versuche vergeblich, ihren Blick zu erhaschen.

„Weißt du, Jeannet“, spreche ich sie leise an, „ich glaube nicht, das du böse bist oder gemein. Ich halte dich für sehr, sehr krank und ich sehe den Grund für deine Krankheit in darin, was du früher erlebt hast. Du brauchst keine Geheimnisse mehr zu hüten. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Aber du musst ehrlich sein, besonders zu deiner Schwester.“

„Dazu gehört auch“, setzt Ruth fort, „dass man sich entschuldigt, wenn man etwas verkehrt gemacht hat oder jemanden verletzt hat.“

Jeannett steht auf und geht wortlos in ihr Zimmer. Aber zum Abendessen erscheint sie wieder. Bevor wir beginnen, wendet sie sich an Susann. Wir sehen ihr an, dass es ihr sehr ernst ist und sie sich zu den Worten zwingen muss.

„Susann, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Was ich getan habe, war nicht richtig. Und was Papa gesagt hat, stimmt.“

Es klingt ehrlich. Susanns Gesicht entspannt sich, ein leichtes Lächeln huscht über ihre Züge.

„In Ordnung, Jeannett.“

Das Thema heißt mal wieder: Konkurrenz. Die Mädchen können es nicht ertragen, wenn sie etwas nicht haben, was die andere hat. Sie müssen es an sich bringen. Aber deshalb ist es für sie auch ein Lernprozess. Sie müssen lernen, was es bedeutet, Eigentum zu haben, etwas, was niemand anderes besitzt. Es hilft ihnen, auch im Alltag zu differenzieren und zu tolerieren, dass andere mehr besitzen, aber auch, abzugeben.

Es ist traurig, dass vernachlässigte Kinder alles haben müssen, was andere haben. Sie sind nie zufrieden und befürchten ständig, zu kurz zu kommen. Wieder einmal erfahren wir, wie stark sich die frühkindliche Sozialisation auf das weitere Leben auswirkt. Unserer Beobachtung nach ist ihr Einfluss stärker als die genetische Disposition eines Menschen.

Über Sir Ralph

Spezialist für Englisch, Wirtschaftsenglisch, Lernmethoden und Motivation, Pflegekinder und -eltern, internationale Kontakte, passionierter Motorrollerfahrer // Expert in English and Commercial English, interested in foster parenting and international contacts and riding my 125cc scooter
Dieser Beitrag wurde unter Der Kampf um Normalität abgelegt und mit , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Hinterlasse einen Kommentar